Ein Artikel gegen das Vergessen

Über die sogenannte Aktion T4 stolpern fast alle Familienforscher irgendwann, wenn sie sich mit der jüngeren Geschichte beschäftigen. Meist betrifft das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten die eigene Familie nicht – bei mir war es anders. Den folgenden Artikel habe ich schon vor einigen Jahren geschrieben, aber bisher nicht veröffentlicht. Das will ich hiermit ändern.

 

Julie Tischer-Opfer der Aktion T4 – Ein Artikel gegen das Vergessen

Inspiriert durch den Film „Nebel im August“

Eines der dunkelsten Kapitel in der Zeit des Nationalsozialismus war die Vernichtung „unwerten und erbkranken Lebens“ während der später so genannten Aktion T4. Der erst nach dem II. Weltkrieg gebräuchlich gewordene Name für dieses unbeschreibliche Verbrechen ist abgeleitet vom Sitz der für diese Aktion verantwortlichen Bürozentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte.

Die meisten Opfer der Aktion T4, hauptsächlich geistig oder körperlich behinderte Menschen, aber auch psychisch kranke Menschen, wurden in der Zeit von Anfang 1940 bis zur offiziellen Einstellung der Aktion im Sommer 1941 in sechs Tötungsanstalten auf dem Reichsgebiet ermordet. Die Tötung erfolgte meist in extra dafür eingerichteten Gaskammern mit Kohlenmonoxid, aber auch der schleichende Tod durch fortwährenden Nahrungsmangel oder überdosierte Medikamente waren gängige Praxis. Allein während dieser relativ kurzen Zeit starben mehr als 70.000 Menschen. Aber auch nach 1941 ging das Töten bis zum Kriegsende weiter.[1]

In einem Briefumschlag, den der Verfasser von seinem Schwiegervater bekam, fanden sich drei Dokumente, die auf den ersten Blick wenig spektakulär erschienen. Der Umschlag enthielt eine Sterbeurkunde, wie sie der Verfasser schon oft in den Händen gehalten hatte, einen Brief an die Hinterbliebenen und einen kurzen Vermerk über eine Verlegung aus einer Heilanstalt. Erst beim zweiten Hinsehen und mit dem Blick auf das Datum kam der Verdacht auf, dass es sich bei der betreffenden Person um ein Opfer der Aktion T4 handeln könnte.

Julie Tischer wurde am 22. Mai 1873 als Tochter des Inwohners Valentin Tischer und Veronika Wittek in Tscheschen/ Schlesien geboren. Nach Erzählungen in der Familie war sie geistig behindert.

Ihr Bruder Paul kam am 4. März 1876 in Groß Graben/ Schlesien zur Welt. Er kam um die Jahrhundertwende nach Oberschöneweide südöstlich von Berlin [2], um bei der AEG in den Kabelwerken Oberspree zu arbeiten.[3] Am 3. August 1901 heiratete er in Oberschöneweide die geschiedene Auguste Essmann, geborene Grunow, mit der seit dem Sommer 1899 eine gemeinsame Tochter hatte. Zum Zeitpunkt der Hochzeit waren seine Eltern bereits verstorben.[4] Auguste starb am 2. Dezember 1915 im Königin Elisabeth Hospital.[5] Mittlerweile waren noch zwei weitere Kinder zu versorgen, so dass der Witwer sich schnell wiederverheiratete. Paul Tischer ehelichte am 25. November 1916 Albine Kluzik in Oberschöneweide.[6] Die Familie Tischer nahm Anfang der zwanziger Jahre die Nichte von Albine Klutzik als Pflegekind auf, womit sich der Kreis zur Familie des Verfassers schließt.

Über das Leben von Julie Tischer ist nur wenig bekannt. Die Aufnahme in die Landesheilanstalt Jerichow erfolgte am 23. Januar 1911 zur „Kur oder Pflege“. Als Stand bei der Aufnahme wird bei Julie Tischer Reisende mit dem Herkunftsort Magdeburg genannt.[7]

Die Landesheilanstalt Jerichow, heute in Sachsen-Anhalt gelegen, existiert seit mehr als 100 Jahren und nahm schon weit vor der Zeit der Nationalsozialisten Patienten zur Pflege und Betreuung auf. Viele dieser Menschen lebten über Jahre in Jerichow.

Im Bundesarchiv in Berlin lagern heute noch etwa 30.000 Patientenakten aus der Zeit der Aktion T4, die Auskunft über das Leben und Leiden der Patienten geben könnten. Eine Anfrage ergab, die Akte von Julie Tischer ist leider nicht erhalten.[8]

Am 13. Mai 1913 findet sich ein Hinweis zu Julie Tischer im Entlassungsbuch der Heilanstalt. Sie war vom Gelände entwichen.[9] Zwei Tage später war sie „von der Entweichung zurück“.[10]

Fest steht, dass Julie Tischer bis zum Sommer 1940 in der Landesheilanstalt Jerichow untergebracht war. Von dort wurde sie am 12. August 1940 zusammen mit 74 weiteren Frauen abgeholt [11] und mit Bussen der GEKRAT [12] in das etwa 40 km entfernte Brandenburg/Havel verbracht. Paul Tischer erhielt über die Verlegung Nachricht. „Ihre Schwester Julie Tischer hat aus kriegswichtigem Grund in eine andere Anstalt verlegt werden müssen, die noch unbekannt ist.“ [13] Die Verlegung sollte offiziell von Jerichow über Genthin (Sachsen-Anhalt) erfolgen. Unterzeichnet ist das Schriftstück von Dr. Carl Tietze, dem Direktor der Landesheilanstalt Jerichow.

Dr. Carl Tietze, geboren 1884, leitete die Anstalt seit 1936. Er wusste von den Krankenmorden und leitete aktiv die Umgestaltung der Heilanstalt Jerichow in eine Zwischenanstalt zur Aufnahme von Patienten aus anderen Heilanstalten. Dazu war es notwendig, zuerst so schnell wie möglich eigene Patienten zu ermorden, um Platz für die zu erwartenden Transporte zu schaffen. Die ersten Patienten verließen Jerichow am 9. Juli 1940. Bis zum 16. September 1940 wurden insgesamt 525 Patienten nach Brandenburg/ Havel verbracht und dort ermordet. [14] In diese Zeit fällt auch der Abtransport von Julie Tischer. Es ist somit davon auszugehen, dass sie schon längere Zeit in Jerichow als Patientin aufgenommen war.

Die postalische Zustellung der Verlegungsmitteilung erfolgte wahrscheinlich erst später an Paul Tischer. Angehörigen von Patienten sollte so die Möglichkeit genommen werden, gegen eine Verlegung zu intervenieren. Aus diesem Grund wurde auch kein Ziel der Verlegung angegeben.

Nach dem Abtransport aus Jerichow ging es für die 75 Frauen auf direktem Weg nach Brandenburg in die Tötungsanstalt.

Die Tötungsanstalt-Brandenburg war die einzige der sechs Tötungsanstalten, die nicht direkt an eine der Heilanstalten gebunden war. Vielmehr wurde das ehemalige Strafgefängnis ab Ende 1939 eigens für die Aktion T4 umgebaut. In der alten Gefängnisscheune richtete man die Gaskammer ein und zur schnellen Beseitigung der Ermordeten wurde extra ein Krematorium errichtet. Um den harmlosen Schein zu wahren, nannte man die Tötungsanstalt „Landes-Pflegeanstalt Brandenburg an der Havel.“ Das Verbrennen der Leichen mitten in der Stadt stellte sich jedoch zunehmend als problematisch dar. Rauch und Gestank erweckten die Aufmerksamkeit der Bevölkerung. Im Sommer 1941 verlegte man die Verbrennungsanlage nach Paterdamm, etwa 6 km außerhalb der Stadt und tarnte diese als chemische Fabrik.[15]

Nach Ankunft der 75 Frauen am 12. August 1940 wurden diese vom „Pflegepersonal“ in den Eingangsbereich der ehemaligen Scheune geleitet, wo sie sich entkleiden mussten. Anschließend wurden letztmalig die Personalien geprüft. Danach führte das Personal die Todgeweihten einem Arzt vor, der eine natürliche Todesursache für die Sterbeurkunde erfand. Zuletzt wurden die Frauen fotografiert und danach in die Gaskammer geführt. Die Vergasung wurde meistens von einem Arzt persönlich durchgeführt. In Brandenburg zeigte sich hauptsächlich Dr. Irmfried Eberl, späterer Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka, dafür verantwortlich. Julie Tischer starb am 12.August 1941 im Alter von 67 Jahren.

Nach Abschluss des Tötungsvorganges wurde der Raum entlüftet und die Ermordeten auf Goldzähne untersucht. Im Fall von Julie Tischer muss danach eine Verladung stattgefunden haben, denn das Krematorium befand sich zu dieser Zeit schon in Paterdamm. [16]

Um Angehörige und Hinterbliebene über die wahren Hintergründe des Todes zu täuschen, hatten die Organisatoren der Aktion T4 ein fast perfektes System zur Verschleierung der Taten eingerichtet. Zunächst errichtete man in den sechs Tötungseinrichtungen des Reiches eigene Standesämter, die ausschließlich den Tod der Ermordeten zu beurkunden hatten. Als Todesursache erfanden die Ärzte häufig auftretende Krankheiten wie Lungenentzündung oder Typhus.

Ab dem Frühjahr 1940 ging man außerdem dazu über, Krankenakten innerhalb der Tötungsanstalten zu tauschen und von dort die Sterbefälle zu beurkunden. Meistens erfolgte der Tausch zwischen weit auseinander liegenden Anstalten, um eine persönliche Anreise von Angehörigen möglichst zu erschweren. Das ist auch im Fall von Julie Tischer der Fall.

Die Sterbeurkunde wurde vom Standesamt Hartheim (Oberdonau) in Österreich ausgestellt. Auch in Hartheim befand sich eine der sechs Tötungsanstalten. In der Urkunde heißt es: „Hartheim (Oberdonau) den 25. August 1940. Die Reisende Julie Tischer, katholisch, wohnhaft Hartheim bei Linz (Oberdonau) ist am 25. August 1940 um 2 Uhr 25 Minuten in der Wohnung verstorben.“ [17]

Als Todesursache wird bei Julie Tischer Lungenentzündung angegeben.

Die Tötungsanstalten verschickten nach der Ermordung ihrer Patienten sogenannte „Trostbriefe“ die mit heutigem Wissen besonders perfide erscheinen.

„Sehr geehrter Herr Tischer! In Erfüllung einer traurigen Pflicht müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihre Schwester Julie Tischer, die auf ministerielle Anordnung gemäss Weisung des Reichsverteidigungskommissars in unsere Anstalt verlegt wurde, am 25. August 1940 unerwartet infolge einer Lungenentzündung gestorben ist. Alle unsere ärztlichen Bemühungen sind leider ohne Erfolg geblieben.

Da jedoch bei der Art und Schwere des Leidens Ihrer Schwester mit einer Besserung und damit auch mit einer Entlassung aus der Anstalt nicht mehr zu rechnen war, kann man ihren Tod , der sie von ihrem Leiden befreite und vor einer lebenslänglichen Anstaltspflege bewahrte, nur als Erlösung für sie ansehen, möge Ihnen diese Gewissheit zum Troste gereichen.

Um einer möglichen Seuchengefahr, die jetzt im Kriege besonders gross ist, vorzubeugen, musste die Verstorbene auf polizeiliche Anordnung hin sofort eingeäschert werden.

Falls Sie die Urne mit den sterblichen Überresten Ihrer Schwester auf einem Bestimmten Friedhof beisetzen lassen wollen – die Überführung der Urne findet kostenlos statt – bitten wir Sie unter Beifügung einer Einverständniserklärung der betreffenden Friedhofsverwaltung im Mitteilung. Sollten Sie uns innerhalb 14 Tagen keine diesbezügliche Nachricht zukommen lassen, werden wir die Beisetzung der Urne anderweitig veranlassen.

Zwei Sterbeurkunden, die Sie für eine etwaige Vorlegung bei Behörden sorgfältig aufbewahren wollen, fügen wir bei. Heil Hitler! (i.A. Unterschrift und Stempel)“ [18]

Auch hier ist wohl davon auszugehen, dass der Brief Paul Tischer erst nach dem Verstreichen der 14 tägigen Frist zur Zusendung der Urne erreichte. Wo die Asche von Julie Tischer verstreut wurde, wird ungeklärt bleiben.

Die Aktion T4 wurde am 24. August 1941 auf Anweisung Hitlers überraschend gestoppt und bewahrte so weitere Menschen zunächst vor dem Tod in den Anstalten. Zunehmend hatte sich Widerstand unter den Angehörigen der Verlegten und ermordeten Patienten geregt. Aber auch Personen wie der Seelsorger der Landesheilanstalt Jerichow, Pfarrer Hermann Gehlmann, der mitbekam, was mit den zahlreichen Insassen geschah, prangerten die Krankenmorde an. Prominentestes Beispiel war sicher der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen, der in einer Predigt am 3. August 1941 die Krankenmorde öffentlich verurteilte. [19] Mit dem Ausbau der Konzentrations- und Vernichtungslager wurde das Töten von “unwertem Leben” an anderer Stelle aber teilweise wieder aufgenommen.

Die Organisatoren von T4 sahen das Tausendfache Morden von behinderten Menschen als Dienst am Volk an und Vordenker der Euthanasie schrieben schon 1920, dass der Tod der Patienten „nicht die geringste Lücke- außer vielleicht im Gefühl der Mutter reißen würde.“ [20]

Möge dieser Artikel dazu dienen, das zu widerlegen und das Andenken an Julie Tischer und die anderen Opfer der Aktion nicht verblassen zu lassen.


Quellen:

[1] Vgl. Seite 7 ff in Euthanasie und Eugenik- Das AWO Fachkrankenhaus Jerichow in der Zeit des Nationalsozialismus; Begleitheft zur Ausstellung; ISBN 978-3-934 950-11-5

[2] Oberschöneweide wurde erst 1921 nach Berlin eingemeindet

[3] Arbeitszeugnis im Besitz des Verfassers

[4] StA Oberschöneweide 27/1901 abgerufen bei ancestry, Name des Bräutigams in der Suchfunktion allerdings Paul Fischer (sic!)

[5] StA Oberschöneweide 506/1915 abgerufen bei ancestry

[6] StA Oberschöneweide 154/1916 abgerufen bei ancestry; in anderen Dokumenten lautet der Name der Braut auch Klotzik

[7] Archiv des AWO-Fachkrankenhauses Jerichow. Aufnahmebuch der Landesheilanstalt 1911. Mail vom 17. Juli 2019. Kopie im Besitz des Verfassers.

[8] Antwort vom Bundesarchiv per Email vom 6. Februar 2019 auf eine Anfrage des Verfassers vom 1. Februar 2019

[9] Archiv des AWO-Fachkrankenhauses Jerichow. Entlassungsbuch der Landesheilanstalt 1913. Mail vom 17. Juli 2019. Kopie im Besitz des Verfassers.

[10] Archiv des AWO-Fachkrankenhauses Jerichow. Aufnahmebuch der Landesheilanstalt 1913. Mail vom 17. Juli 2019. Kopie im Besitz des Verfassers.

[11] Vgl. Seite 25 in Euthanasie und Eugenik- Das AWO Fachkrankenhaus Jerichow in der Zeit des Nationalsozialismus; Begleitheft zur Ausstellung; ISBN 978-3-934 950-11-5

[12] GEKRAT – Gemeinnützige Krankentransport GmbH, Tarnorganisation

[13] Dokument AZ Tischer 1/40, Kopie im Besitz des Verfassers

[14] Vgl. Seite 7 ff in Euthanasie und Eugenik- Das AWO Fachkrankenhaus Jerichow in der Zeit des Nationalsozialismus; Begleitheft zur Ausstellung; ISBN 978-3-934 950-11-5

[15] Vgl. dazu www.brandenburg-euthanasie-sbg.de/geschichte/1940-t4-toetungsanstalt-brandenburg; abgerufen am 31.Januar 2019

[16] Vgl. dazu www.brandenburg-euthanasie-sbg.de/geschichte/1940-t4-toetungsanstalt-brandenburg; abgerufen am 31.Januar 2019. Der Tötungsvorgang wird auch in verschiedenen Veröffentlichungen zum Thema so beschrieben und glich sich in allen Tötungsanstalten.

[17] Sterbeurkunde als Kopie beim Verfasser. (hier StA 28/96.)

[18] Kopie im Besitz des Verfassers

[19] Vgl. Seite 11 und 12 in Euthanasie und Eugenik- Das AWO Fachkrankenhaus Jerichow in der Zeit des Nationalsozialismus; Begleitheft zur Ausstellung; ISBN 978-3-934 950-11-5

[20] Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 – Vgl. dazu Seite 12 in Euthanasie und Eugenik- Das AWO Fachkrankenhaus Jerichow in der Zeit des Nationalsozialismus; Begleitheft zur Ausstellung; ISBN 978-3-934 950-11-5

 


Das Beitragsbild ist der sogenannte Trostbrief an die Familie der Ermordeten, Quelle: Familienarchiv