VI. Friedensfahrt 1953

VI. Internationale Friedensfahrt 1953 – Der Weg zum blauen Trikot

 

Das Jahr 1953 gilt als der erste Höhepunkt in der Geschichte des DDR-Radsports. Die Equipe der DDR konnte zum ersten Mal die blauen Trikots für die beste Mannschaft gewinnen.

Erich Schulz, zunächst als Kapitän, Paul Dinter, später als Kapitän, Gustav Adolf, genannt Täve, Schur, Erich Zawadzki, Bernhard Trefflich, und Lothar Meister quälten sich schon Monate vorher in verschiedenen Trainingslagern für die Teilnahme an der VI. Internationalen Friedensfahrt. Das schwere Etappenrennen war geprägt durch zahlreiche Stürze und wegen der schlechten Straßen auch durch häufig auftretende Materialschäden, vor allem bei Paul Dinter. Auch das schlechte Wetter machte den Fahrern häufig zu schaffen. Oft schneite es unterwegs sogar. Wie hart das Rennen war, sieht man schon allein daran, dass von 93 gestarteten Rennfahrern, nur 38 die letzte Etappe überstanden.

Der folgende Text ist eine Zusammenfassung einer Artikelserie aus der BZ am Abend, in der Paul Dinter seine Erlebnisse bei der VI. Friedensfahrt schilderte. Ergänzt wird die Schilderung mit statistischen Daten aus dem Buch “Jedesmal im Mai” von  Klaus Ullrich.

Nach anstrengenden Trainingslagern im sächsischen Hartha und im brandenburgischen Kienbaum reiste die DDR-Mannschaft mit dem Zug von Berlin, über Prag nach Bratislava, um im Startort Quartier zu beziehen.
Die VI. Internationale Friedensfahrt startete am 1. Mai in Bratislava, führte über Berlin und endete am 14. Mai nach etwa 2231 km in Warschau.

1. Etappe Bratislava-Brno 1. Mai (166 km)
Paul Dinter erzählt – Karikatur in der “BZ am Abend”, Quelle: Familienarchiv

Paul Dinter beschreibt in der Artikelserie sehr anschaulich, was vor dem Rennen von den Fahrern alles selbst erledigt werden musste. Die Verpflegung für die Etappen, bestehend aus Apfelsinen, Würfelzucker, Keksen mit Butter und Schokolade, sowie Trinkflaschen mit Haferschleim und Eigelb führten die Fahrer in ihren Trikottaschen mit sich. Auch ein Ersatzreifen, der um die Schultern geschlungen war, sowie eine Luftpumpe gehörten zur Ausrüstung der Fahrer.

Nach dem Start wurde sofort auf Angriff gefahren und es dauerte eine Weile, bis sich die Nervosität im Feld gelegt hatte. „Ete“ Zawatzki gewann die erste Spurtwertung der Friedensfahrt.
Von der ersten Etappe an, entbrannte ein harten Kampf um die begehrten blauen Trikots. Es wurde hart attackiert und das Feld zog sich weit auseinander. Am Etappenende in Brno lag die DDR-Mannschaft auf Rang drei mit 16 Minuten Rückstand auf England.
Paul Dinter wurde auf dieser Etappe 61.

2. Etappe Brno-Prag 2. Mai (224 km)

Sofort nach dem Start begannen die ersten Ausreisversuche. Diesmal war Paul Dinter von Anfang an dabei. Auch diese Etappe war geprägt durch andauernde Angriffe von kleineren Gruppen. Das Feld kam weit auseinander gerissen am Zielort an. Paul Dinter sicherte als 25. wichtige Zeit für die DDR-Mannschaft. In der Gesamtwertung lag er allerdings nur auf Rang 43. Dänemark führte jetzt in Blau, die Mannschaft der DDR war vierter mit knapp 16 Minuten Rückstand.

3. Etappe Prag-Karlovy Vary 3. Mai (173 km)
Fahrt auf Kopfsteinpflasterstraßen, an zweiter Position – Paul Dinter; Quelle: Familienarchiv

Geprägt durch starke Steigungen, ließ diese Etappe zunächst keine Ausreisversuche zu. Der DDR-Mannschaft gelang es nicht, geschlossen aufzutreten und so Kräfte zu sparen. Nach einer langen Fahrt mit ständigem Kantenwind und einigen Stürzen, verpasste Bernhard Trefflich nur knapp den Etappensieg. England eroberte sich die Blauen Trikots zurück. Im Hotel „tadelte“ Trainer Schiffner diese Fahrweise, bei der sich jeder „auf der Kante totgefahren“ hatte. Paul Dinter kam bei dieser Etappe als 61. durchs Ziel und belegte in der Gesamtwertung Rang 47 mit etwas mehr als 37 Minuten Rückstand. In der Mannschaftswertung machte die DDR dennoch etwas an Boden gut und belegte mit 8 1/2 Minuten Rückstand Rang vier.

4. Etappe Karlovy Vary-Decin 4. Mai (160 km)

Die vierte Etappe war mit 160 km vergleichsweise kurz. Wieder begann die Etappe mit einem „Raketenstart“ mit dem die DDR-Fahrer nicht gut zurechtkommen. Das Feld zerfiel wieder in einzelne Grüppchen. Nach dem plötzlichen Antritt eines Engländers konnte Paul Dinter folgen. Sie lagen lange in Führung, als in einer Linkskurve der Engländer zu Fall kam. Beim Versuch eines Ausweichmanövers stürzte auch Paul Dinter auf das Pflaster der Straße. Die Folge war ein kaputtes Rennrad, starke Prellungen und Schürfwunden sowie eine blutende Wunde am Unterarm, die er sich notdürftig selbst verband und die später im Krankenhaus genäht werden musste. Er kam als 50. durchs Ziel. Nach Abschluss der Etappe war die Mannschaft immer noch vierter, der Rückstand hatte sich jedoch vergrößert.

Den folgenden Ruhetag verbrachten Dinter und Schulz, der schon vorher gestürzt war und im Ziel vom Fahrrad gehoben werden musste, im Deciner Krankenhaus. Die Ärzte hatten Bedenken gegen einen Start von Dinter, die dieser jedoch nicht beachtete.

5. Etappe Schandau-Chemnitz 6. Mai (195 km)

Bei strömendem Regen machte sich das Feld einen Tag später auf die 193 km lange Etappe nach Chemnitz. In Dresden sprang Dinter die Luftpumpe vom Rahmen und blockiert ihm das Hinterrad. Nur mit Mühe konnte ein Sturz verhindert werden. Auf dieser Etappe war er jedoch noch weiter vom Pech verfolgt. Nach einem zunächst unbemerkten Gabelkopfanbruch hatte er auch noch einen Platten am Hinterrad und musste mit klammen Fingern den Reifen selbst wechseln. Aber nicht nur Paul Dinter war vom Pech verfolgt. Zawadzki musste am Abend mit einer beidseitigen Lungenentzündung das Rennen aufgeben. Erich Schulz wurde während der Etappe von einem Zuschauer umgerannt, stürzte und erlitt einen Schädelbruch. Auch für ihn war die Friedensfahrt beendet. Da für die Mannschaftswertung drei Fahrer wichtig waren, konnte sich Paul, der selbst schon an Aufgabe dachte, sich das nun nicht mehr erlauben. Lothar Meister wurde auf dieser Etappe Zweiter, Dinter nach seinem schweren Sturz immerhin noch 40. Nach dem Aus von Erich Schulz wurde Paul Dinter zum Mannschaftskapitän ernannt. Die DDR-Mannschaft lag auf Platz drei, hatte aber über 17 Minuten Rückstand auf Dänemark.

6. Etappe Chemnitz-Leipzig 7. Mai (187 km)

Der Start zur nächsten Etappe in Chemnitz war wieder verregnet. Diese Etappe hielt die „Steile Wand von Merane“ für die Fahrer bereit. Eine Steigung von etwa 22 % mitten im Ort. Wer die Wand nicht kennt, hält sie zunächst für eine optische Täuschung. Auf dem kleinsten Gang kurbelten die vier verbliebenen DDR-Fahrer den Anstieg herauf. Paul Dinter hatte wieder Probleme mit seinem Rad. Erst jetzt, bei den Bergabfahrten wurde ihm der unentdeckte Gabelanbruch vom Vortag zum Verhängnis. Ewig dauerte es, bis der Materialwagen heran war, um das Ersatzrad zu bringen. An der Spitze des Feldes war die Jagd im Gange. Täve Schur war in einer kleinen Spitzengruppe unterwegs und wurde Dritter. Dinter konnte beim Zielspurt des Hauptfeldes auf der Aschenbahn in Leipzig noch Achter werden. Der Abstand in der Mannschaftswertung betrug immer noch mehr als 18 Minuten auf Dänemark, aber nur knapp eine Minute auf die zweitplatzierten Belgier.

7. Etappe Leipzig-Berlin 8. Mai (198 km)
Reifenschaden – Dinter hilft sich selbst, Quelle: Familienarchiv

Am 8. Mai 1953 traten nur noch zwei Engländer zum Start an. Damit war einer der stärksten Konkurrenten um das Blaue Trikot aus dem Rennen. Die DDR-fahrer konnten sich jetzt voll auf die knapp vor ihnen liegenden Belgier konzentrieren. Denen gelang es, trotz mehrfacher Versuche, jedoch nicht, sich auf der Etappe abzusetzen, die vier DDR-Fahrer stiegen jedes Mal hinterher. Kurz vor Berlin hatte Dinter wieder einen Platten. Diesmal war der Materialwagen aber schnell zur Stelle und brachte gleich ein neues Hinterrad. Kurz nach der Spitzengruppe überquerte er das Ziel in Berlin auf Platz 35. Am Ende des Tages lagen die Belgier aber über sechzehn Minuten hinter den Deutschen Fahrern.

8. Etappe Berlin-Görlitz 9. Mai (226 km)
Vom Pech verfolgt, Quelle: Familienarchiv

Der Start in Berlin war wieder regenverhangen und entwickelte sich zur Unwetteretappe. Nur noch 51 Fahrer waren am Start. Diese Etappe führte auch durch Dinters Heimatstadt Königs Wusterhausen. Nur wenige Kilometer vorher hatte er erneut einen Platten und musste dem Feld durch seine Heimatstadt allein hinterherfahren. Die Aufholjagd dauerte bis kurz vor Cottbus. Auf regennasser Fahrbahn geriet Paul Dinter plötzlich in eine Straßenbahnschiene und stürzte schwer. Durch eine große Kraftanstrengung erreichte er aber wieder Anschluss. Auf dieser Etappe fiel auch die belgische Mannschaft auseinander. Beim Zielspurt in Görlitz gelang dann historisches. Bernhard Trefflich konnte den ersten Etappensieg für die DDR holen. Paul Dinter wurde 32. und belegte in der Gesamtwertung den 30. Platz. Die DDR-Mannschaft hatte immer noch fast 16 Minuten Rückstand auf die führenden Dänen.

9. Etappe Görlitz-Wroclaw (Breslau) 11. Mai (165 km)

Nach einem weiteren Ruhetag wurde die Grenze zu Polen überschritten. Die polnische Mannschaft verschärfte vor heimischem Publikum das Tempo, so dass Paul Dinter das Feld ziehen lassen musste. Die Dänen, der stärkste Konkurrent ums Blaue, machten auf dieser Etappe viele Minuten gut, aber Trefflich, Meister und Schur trafen im Hauptfeld ein. Dinter, der sich wieder herangekämpft hatte, kam einige Minuten später in Wroclaw an und wurde 27. Doch Dänemark führte nach dieser Etappe mit über 21 Minuten- kaum noch aufzuholen.

10. Etappe Wroclaw-Kattowitz 12. Mai (193 km)

Bei dieser Etappe leisteten die vier verbliebenen Deutschen unglaubliches. Kurz nach dem Start verschärften die Polen wieder das Tempo. Sie lagen in der Mannschaftswertung jedoch weit hinter der DDR und konnten nicht mehr gefährlich werden. Ziel dieser Etappe war, möglichst viel Zeit auf die Dänen gut zu machen. Trefflich und Schur gingen nach schnellem Start mit in die Spitze. Beide wurden im Ziel Vierter und Fünfter, und konnten wertvolle Zeit herausfahren. Lothar Meister und Paul Dinter hatten zum Ende der Etappe die Aufgabe, das Feld zu bremsen und die Dänen nicht an die Spitze herankommen zu lassen. Das gelang hervorragend. Lothar Meister, der kurz vor dem Ziel einen Rahmenbruch hatte und auf einem Ersatzrad hinter fahren musste und Dinter, dem im Ziel erneut die Gabel brach, komplettierten das gute Ergebnis für die DDR. Dinter wurde 31. Durch den Erfolg konnte der Rückstand auf die dänische Mannschaft erheblich verringert werden. Am Ende des Tages lagen die Dänen nur noch 42 Sekunden vor der DDR.

11. Etappe Kattowitz-Lodz 13. Mai (206 km)
Das Feld in Polen – Dinter im blauen Trikot mit Startnummer 78, Quelle: Familienarchiv

Im Quartier hatte man beschlossen, dass Dinter und Meister auf der kommenden Etappe die zu erwartenden Vorstöße der Dänen abwehren sollten, da Schur und Trefflich sich auf der wilden Hatz des Vortages zu sehr verausgabt hatten. Die Taktik ging fast auf, aber dann hatte Paul Dinter schon wieder Reifenschaden. Das Hinterherfahren inzwischen gewöhnt, musste er kurz darauf mit ansehen, wie auch Mannschaftskamerad Bernhard Trefflich versuchte, wieder Luft in seinen Reifen zu bekommen. Er warf seine Luftpumpe ab, um Trefflichs kaputte Pumpe zu ersetzen und verlangsamte seine Fahrt. Gemeinsam konnten sie das uneinig fahrende Hauptfeld wieder einholen. Schur hatte vorn das Tempo gedrosselt. Doch kurz vor dem Ziel zogen die in der Einzelwertung führenden Dänen Andresen und Petersen noch einmal das Tempo an. Trefflich konnte den beiden folgen und entscheidend bremsen. Paul Dinter kam auf Rang 31 durchs Ziel und wurde in der Gesamtwertung auf Platz 28 geführt. Am Ende des Tages hatte die DDR-Mannschaft das Blaue erkämpft und führte jetzt mit drei Minuten vor Dänemark.

12. Etappe Lodz-Warschau 14. Mai (139 km)

Zur letzten Etappe nach Warschau traten nur noch 38 von 93 anfangs gestarteten Fahrern an. Die großen Anstrengungen hatten ihren Tribut gefordert. Nach dem Start ging es bei Rückenwind zügig voran. Auf der Strecke dann ein schwerer Sturz, in den Täve Schur und Paul Dinter verwickelt wurden. Dänemark machte sofort Tempo, um das Blaue Trikot doch noch zu gewinnen. Schur konnte sich schneller aufrappeln, bekam sein Ersatzrad und konnte dem Feld hinterherjagen. Paul Dinter wurde mit seinen Verletzungen erst mal in den Krankenwagen gehoben und erstversorgt. Vom Betreuer wurde er überredet, sich wieder aufs Rad zu setzen und weiter zu fahren, falls es einem der anderen Drei nicht gelingen sollte, ins Ziel zu kommen, um so das Blaue Trikot für die Mannschaftswertung zu sichern.
Als Dinter in das Warschauer Stadion einfuhr, sah er zu seiner großen Freude, wie seine drei Mannschaftskameraden bereits einen Freudentanz aufführten. Sie hatten das Blaue Trikot zum ersten Mal für die DDR gewonnen. Der Däne Petersen hatte den Einzeltitel geholt.

Die verbliebenen DDR-Fahrer platzierten sich wie folgt: 3. Platz Täve Schur, 4. Platz Bernhard Trefflich, 12. Platz Lothar Meister und 28. Platz Paul Dinter.

Wieder zu Hause
Walter Ulbricht gratuliert Paul Dinter – Zeitungsausschnitt. Quelle: Familienarchiv

Als die siegreiche Friedensfahrtmannschaft am 20. Mai auf dem Berliner Ostbahnhof eintraf, war es dem Mannschaftskapitän Paul Dinter vergönnt, vor der jubelnden Menge die Dankesworte zu sprechen.
Im Walter-Ulbricht-Stadion wurden die Mannschaft und ihr Trainer Werner Schiffner von Walter Ulbricht mit dem Titel „Meister des Sports“ ausgezeichnet.