Das Kriegsende zweier Schwestern in Halberstadt
Vor einigen Tagen erhielt ich zehn Seiten aus einem Tagebuch, die die Beschreibung der letzten Kriegstage und die der Nachkriegszeit in Halberstadt zum Inhalt haben. Schreiberin des Textes war die Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits, Ilse Wein, geb. Mann.
Familie Wein lebte 1945 mit zwei Kindern unweit von Königs Wusterhausen. Hans Wein arbeitete in kriegswichtiger Industrie und war deshalb nur tageweise bei der Heimatflak eingesetzt. Mit zunehmender Fliegertätigkeit auf Berlin und weil er seine Familie besser geschützt sehen wollte, brachte er seine Frau und die zwei Kinder zu seiner Schwester nach Halberstadt. Mein Urgroßvater Walter Mann war seinerzeit in der Ortsgruppe der NDSAP aktiv, außerdem war er Angestellter der Stadt Königs Wusterhausen und stattete die Familie mit gültigen Passierscheinen aus. Hans Wein musste anschließend wieder zurückkehren.
Am Vormittag des 8. April 1945 erlebte die Stadt jedoch ein furchtbares Inferno. Sechs Bomberstaffeln der 8. US-Luftflotte warfen 554 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die mittelalterliche Handelsstadt und lösten damit einen Feuersturm aus. Strategisch wichtig war Halberstadt nicht. Mehr als 2.000 Menschen starben bei diesem Bombardement, gut 80 Prozent der historischen Stadt wurden zerstört. Hans Wein hörte von dem Angriff im Radio und machte sich mit dem Fahrrad auf den über 200 km langen Weg, um nach seiner Familie zu suchen.
Gerda Mann, meine Großmutter, war seinerzeit bei der Luftwaffe und zufällig mit ihrem Truppentransport durch den Luftangriff unweit von Halberstadt liegen geblieben. Sie machte sich nun auch auf die Suche nach ihrer Schwester, die sie durch großes Glück noch am selben Tag im brennenden Halberstadt wiederfinden konnte. Abends um 23 Uhr hatte auch Hans Wein die Stadt erreicht und konnte seine Familie unverletzt in die Arme schließen. Zum Glück war auch die Wohnung unversehrt geblieben. In den 1 ½ Zimmern lebten nun fünf Erwachsene und fünf Kinder. Gerda erhielt sofort Zivilkleidung, die Luftwaffenuniform vergruben die Frauen auf einem naheliegenden Acker.
Drei Tage später waren die Amerikaner da und die beiden Familien mussten in eine noch kleinere Wohnung umziehen. Ilse Wein beschreibt eindrucksvoll, wie sich die Familien in den Folgewochen durchschlagen mussten. Immer auf der Suche nach Essen und anderen verwertbaren Dingen, die man eintauschen konnte. Wie die Frauen aus fetttriefenden Pferdeknochen Seife kochten, die Männer mit dem Kinderwagen ein Fass Baldrian bargen und wie daraus Kartoffelplätzchen gebacken wurden. Im Bahnhof wurde ein Wagon mit Sprit geplündert, der dann mit Wasser gepanscht, mit den später nachrückenden Russen getauscht wurde.
Anfang August 1945 kam ein Brief von den Eltern aus Königs Wusterhausen und Familie Wein und meine Großmutter machten sich mit dem Zug auf in Richtung Berlin. Die Fahrt begann in einem völlig überfüllten Waggon, in den man nur über das Fenster einsteigen konnte. Ab Wittenberg ging es auf einem offenen Güterwagen weiter und später wieder mit einem Personenzug nach Berlin-Lankwitz. Immer dabei die Kinder an der Hand und das Gepäck auf dem Rücken. Den Rest der Fahrt legten die Heimkehrer mit einem Postauto zurück, als Fuhrlohn diente eine Fleischdose.
Zu Hause angekommen, war das Wiedersehen mit den Eltern unvergesslich. So lange lebte man nun schon in Ungewissheit, wie es dem anderen wohl ergangen sein mag.
Die Aufzeichnungen enden mit den Worten: „Mehr will ich nicht berichten von dieser schrecklichen Zeit. Allmächtiger Gott, bewahre uns alle vor einem Krieg!!“
Eine Wunsch, der gerade in der heutigen Zeit und etwa 80 Jahre nach Kriegsende, nichts von seiner Bedeutung verloren hat.
Foto: Ilse Mann, Frieda Mann und Gerda Mann. Quelle: Familienarchiv